Gleisbett

von | 01.Okt.2015 | Dies & Das | 2 Kommentare

Nun zu etwas ganz anderem, geehrter Unbekannter.

Da ich, wie Sie sicherlich feststellen konnten, mit dem Niederbringen solcher Texte zwar vertraut, keinesfalls jedoch versiert bin, verzeihen Sie mir die eventuellen Holprigkeiten. Die folgende Begebenheit beschäftigt mein Gemüt doch stark.

Es handelt sich hierbei weniger um eine Erzählung, mehr um eine Erfahrung, die ich, so gut ich kann, jedoch ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit, wieder zu geben versuche.

 

Die Geschehnisse, die den Rahmen für diese sonderbare, wenngleich faszinierende Erfahrung bildeten, können auf einen trüben, jedoch trockenen Tag im November datiert werden.

An diesem Tag fand ich mich, getrieben vom alltäglichen Treiben, an der Bahnstation wieder.

Trotz der eingestandenen Schläfrigkeit unseres Städtchens herrschte dort kurz vor und nach der Abfahrt eines Personenzuges reges Treiben.

Meiner eigenen Überpünktlichkeit ist es zuzuschreiben, dass ich eben nicht zu einem solchen Zeitpunkt dort eintraf.

Es hatte noch einige Zeit zu verstreichen, bevor der Zug den bis dahin menschengesäumten Bahnsteig erreichen würde.

Außer mir fanden sich daher in diesem Moment nur zwei andere arme Seelen bei den Gleisen.

Die eine, eine in Winterkleidung versunkene Person ganz am Ende einer Bank sitzend, die andere ein Streuner, der das Gleisbett nach seinem täglich Brot durchstöberte.

Einen Moment hielt ich inne um dieses Schauspiel zu beobachten. Wie er schnüffelnd, Schwelle für Schwelle ablief, dabei hin und wieder zwischen Sträuchern verschwand und hier und da stoppte, um etwas zwischen den groben Steinen des Gleisbettes genauer zu untersuchen. Alsbald jedoch das Interesse verlor und seinen Weg entlang des kalten Stahls der Schienen fortsetzte.

Während ich gedankenverloren diese Szene verfolgte, waren zwei weitere Wartende auf dem Bahnsteig angekommen.

Aus meinen Gedanken aufgeschreckt, verspürte ich das Bedürfnis die verbleibende Zeit, wohl aufgrund des vorangegangen Fußmarschs, nicht weiter stehend zu verbringen. Ich wandte mich der Bank zu auf der nach wie vor die erste Person ganz an den Rand gezwängt, regungslos kauerte.

Während ich mich der Bank näherte durchfuhr mich ein Verlangen wie aus dem Untersten meines Geistes. Ähnlich dessen, was ein Kind befällt, wenn sich im Krämerladen der Verkäufer abwendet und die Süßigkeiten an der Theke so verlockend da liegen, dass es fast den Arm ausstreckt und das begehrte Gut unbemerkt in der Jacke verschwinden lässt. Ein Verlangen, dass man verspürt, wenn ein gehetzter Geschäftsmann in seiner Eile seine Brieftasche fallen lässt und, sich dessen unbewusst, mit schnellen Schritten entfernt.

Dieser Trieb, welcher alle geschriebenen sowie ungeschriebenen Normen, Regeln gar Gesetze missachtet. Der, den wir von klein auf gelehrt bekommen ihn zu unterdrücken. Der, dessen Bändigung den Menschen erst ermöglichte Zivilisationen zu errichten. Dieser Trieb erfasste mich mit einem mal so unerwartet heftig, wie ein Platzregen an einem klaren Sommertag.

Er zog mich, nein trieb mich an der unbesetzten Länge der Bank vorbei. Immer weiter auf die Person zu, die nur einen kleinen Teil der Sitzgelegenheit für sich beanspruchte.

Als hätte ich all meine Erziehung vergessen, all die unausgesprochenen Regeln verdrängt, ging ich weiter die Bank entlang, während mein Atem vor Aufregung rascher ging und mein Herz, wie in dem Moment in dem man die Brieftasche aufhebt und sieht, dass sie mit Bargeld gefüllt ist, spürbar in meiner Brust schlug.

Ich näherte mich der Person und, mit dem heimtückischen Triumph in mir aufsteigend, welcher das Einstecken der fremden Brieftasche begleitet, ließ ich mich direkt neben ihr nieder.

Das Erschaudern, welches meine Berührung bei meinem Sitznachbar hervorrief erfüllte mich mit einer nie zuvor erlebten Genugtuung. Die irritierten Blicke der anderen Leute verschafften mir eine eigenartige Befriedigung.

Gefangen in Normen der Höflichkeit, die ich so leichtfertig verworfen hatte, vermochte mein Opfer nicht, meiner Invasion zu entfliehen. War meinem Angriff völlig schutzlos ausgeliefert. An dieser Schutzlosigkeit labte sich ein dunkler Teil von mir den ich weggesperrt glaubte. Der nun jedoch Überhand nahm und sich am Zurückschrecken des Armes, als er von meinem berührt wurde, an der verstörten Unruhe die ich hervorrief, verzückt nährte.

 

An dieser Stelle, sehr verehrter Unbekannter, versagte mir die Feder. Ich nutzte die Gelegenheit mich zu sammeln, den Wasserkrug aufzufüllen und meiner zittrigen Hand eine Pause zu gönnen.

 

Nun, es war eine Weile seit meinem Wagnis vergangen, füllte sich langsam der Bahnsteig und mit ihm eine wartende, ansteigende Stimulation in mir. Es war als würde jeder Blick, das sich auch nur kurz auf unser ungleiches Paar legte, mein Hochgefühl um ein vielfaches steigern.

Ich merkte alsbald, dass es schwieriger wurde der Spannung standzuhalten. Mehr als einmal versuchte der kleine, übriggebliebene Teil Anstand in mir der geladenen Situation zu entkommen. Einfach aufzustehen und sich zu entfernen.

Doch nun war auch ich gefangen. Gefangen in der Erwartung in was dieser Gefühlsausbruch gipfeln würde. Ob das Crescendo wie bei einer großen Komposition auf einen Höhepunkt zu arbeitete oder ob es gar in einem leeren Echo verhallen würde.

Mehr und mehr Menschen säumten den Bahnsteig und immer noch steigerten sie eine perverse Lust in mir. Die Stellen an denen sich unsere Körper berührten glühten fast vor Energie. Nie zuvor war ich mir meines Ellbogens so bewusst gewesen.

Ein leises Zischen im Gleisbett kündigte die Ankunft des Zuges, und damit die Flucht meines Partners an.

Als das Geräusch der Schienen weiter anstieg, wurde die Spannung in mir so unerträglich, dass auch ich unruhig wurde. Mein Sichtfeld verschwamm. Ich fühlte mich euphorisch und tief deprimiert zugleich. Wollte meinen Begleiter auf dieser Irrfahrt umarmen und gleichzeitig aufs übelste beschimpfen.

Der Zug bog in den Bahnhof ein und die spürbare Erleichterung meines Leidensgenossen dämpfte meine Euphorie nicht im Geringsten. Endlich war er da, der Moment auf den sich alles aufgestaut hatte.

Als die Lokomotive an uns vorüberstampfte zitterte ich am ganzen Leib. Mit einem Mal zogen Waggonabteile an uns vorüber und aus den Fenstern schienen uns ein Vielfaches an Gesichtern zu beobachten. Dadurch erhöhte sich noch die Spannung in uns, was mir unwillkürlich einen Ausruf der Wonne entriss. Dies lenkte, trotz des Lärms der Bremsen die umstehenden Blicke auf uns.

Nun frei von Konventionen erhob sich mein Nachbar. Den Höhepunkt den ich dabei erlebte vermag ich nicht zu beschreiben, da er dem sexuellen zwar ähnlich, jedoch von völlig anderem Ursprung war. Er lies mich weinend, zitternd und allein auf der Bank zurück, als der Zug sich langsam wieder in Bewegung setzte.

Nie zuvor hatte ich eine solche Nähe, eine solche Intimität mit einer Person gespürt wie mit diesem Fremden. Nie waren sich zwei Seelen auf so engem Raum begegnet. Ohne etwas über den anderen zu wissen kannten sie sich doch besser als alte Freunde, ja besser als Liebende gar.

Und doch trennten sie sich ohne die Chance auf ein Wiedersehen.

Bis heute trauere ich ihr nach. Dieser Person die mich in diesen kurzen Augenblicken der Wolllust begleitete. Immer noch hoffte ich ihr Gesicht eines Tages wieder zu erblicken und dann vielleicht das Blitzen der Erinnerung durch ihre Augen ziehen zu sehen. Doch ist es mir bis heute verwährt geblieben.

Vielleicht seid ihr es ja, teuerste Unbekannte, die mit mir auf dieser Bank gesessen und diese Euphorie durchlebt hat. Es sei vielleicht gesagt, dass ich mich seitdem mit keinem Menschen verbunden gefühlt habe.

Nur ihr, geliebte Unbekannte, lasst mich hoffen irgendwann noch einmal diese Ekstase erleben zu dürfen. Ich wünsche mir, dass wir diese Hoffnung teilen.

 

Und ein zweites Mal verweigerte mir die Feder ihren Dienst. Den Wasserkrug zerbrach ich in meiner Erregung und beim Anblick der Scherben wird mir nun klar, dass wohl dieser Höhepunkt unwiederbringlich ist. Ebenso unmöglich, wie den Krug wieder aufs genaueste so zusammen zu setzen, dass er seiner früheren Version in allen Aspekten gleicht, so aussichtslos ist auch meine Suche nach euch, meine vergötterte Unbekannte.

Denn was ist unser Leben als eine Jagd nach den ersten Empfindungen die wir verspürt, doch nie haben replizieren können.

So birgt das Leben nach diesen verhängnisvollen Momenten am Bahnhof nur noch einen Höhepunkt für mich. Den Höhepunkt auf den sich ein jeder zu bewegt.

 

Das Leben ist mir schal geworden.

Und so werd’ ich voller Spannung, ohne Sorgen,

Diese letzte Sensation nun wagen.

Um ein letztes mal das Hochgefühl, die Lust zu jagen.

Endlich dies Begehren zu ertragen.

 

Nun denn auf Wiedersehen, meine vermisste Unbekannte.

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2 Kommentare

  1. Klaus Lutz

    Das klingt, als hättest Du einen Fernkurs im Schreiben mit bravour bestanden. Der Text erinnert mich an die Schreibweise von Victor Hugo! Der hatte auch so Passagen, wo er den Leser direkt angesprochen hat. Aber mich beeindrucken die Gefühle und Gedanken. Und die Kraft, mit der das alles rüber kommt. Das alles ist ein vollkommenes Universum, des wahrsten das ein Mensch leben kann. Dieser Mensch denkt wahrscheinlich immer das Beste, bei allem was seine Blicke so treffen. Ein Mensch der wirklich lebt. Und so ein Mensch kommt immer zu gelungenen Ergebnissen. So sehe ich das! Grüße Klaus

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  2. Erato

    Sehr beeindruckend …
    Ich habe selten etwas gelesen, das aus einer, von außen unscheinbaren Situation, so ein Erlebnis – so etwas unbeschreibbares zaubert …

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