Es geschah an einem Dienstag im August, als Jari feststellte, dass es in dem Geschoss, in welchem er und seine Schwestern ihre Zimmer hatten, anders roch. Jari war gerade dabei, seine Russischstunde mit der Begründung, zum Kieferorthopäden zu gehen, zu schwänzen, als er das obere Stockwerk betrat und von einem ungewöhnlichen Geruch eingehüllt wurde. Ganz und gar ungewöhnlich war dieser wohl nicht; allerdings war er bisher immer aus einem der hinteren beiden Zimmer gedrungen, in dem die älteste und die jüngste Schwester wohnten, nicht aber aus dem Zimmer, das dem Treppenabsatz direkt gegenüber lag. Junes Zimmer.
June hatte sich nie von jemandem etwas sagen lassen und war von jeher das gewesen, was die Erwachsenen gemeinhin als eine rotzfreche Göre zu bezeichnen pflegten, eine, die tat, was sie wollte, und vieles, das sie sollte, lieber ließ. Dazu gehörte ihr Wille, tagein, tagaus dieselben uralten Fußballschuhe zu tragen, die aussahen, als könnten sie sich jeden Moment auflösen, und ihr Unwille, sich mit den Regeln der Erwachsenenwelt zu arrangieren. Wohl wissend, dass diese Welt einmal die ihrige sein würde, stemmte sie sich mit aller Kraft gegen jegliche ihrer Konventionen und versuchte vehement, nicht an ihr eigenes Alter und dessen durch und durch unaufhaltsames Steigen nachzudenken. Stetig war sie damit beschäftigt, ein entweder gleichgültiges und welthassendes Gesicht aufzusetzen. Derlei Mimik erschien ihr für jedwedes Gespräch zu genügen, denn Junes Meinung nach gab es unter den Menschen – allen voran den Erwachsenen – nur zwei Arten von möglichen Gesprächen, die an sie, June, gerichtet sein konnten: entweder jene, die sich um die Zukunft und Fragen nach einer voraussichtlichen Karriere drehten und June so sehr langweilten und so sehr Angst machten, dass sie sie nur mit größtmöglicher Gleichgültigkeit zu quittieren vermochte, und jene, die allerlei mehr oder minder versteckte Kritik an ihr, June, ihrem Lebensstil und ihren Lebenszielen, die beide nach der offenbaren Ansicht der Älteren in keinem befriedigenden Maße vorhanden waren, enthielten. Auf letztere wusste sie nur mit demonstrativem Fauchen und Wüten zu reagieren, um der Welt ihre durch und durch punkige Einstellung ins eigene Gesicht zu drücken und gleichermaßen ihre Unsicherheit vor ihr zu verbergen.
Nun stand Jari vor dem Zimmer seiner jüngsten älteren Schwester, den zerfetzten Russischhefter in der einen Hand und in der anderen die Klinke, die er zu seinem Erstaunen gar nicht nach unten zu drücken brauchte, um die Tür zu öffnen. Sie war angelehnt, was Jari logisch erschien, denn anders konnte ja der seltsame Duft nicht herausgedrungen sein. Vorsichtig verlagerte er sein Gewicht auf den rechten Fuß, der vorne stand, und drückte die Tür mit der leicht verstärkten Berührung seines Körpers und seiner Hand auf. Als er eintrat, musste er den Unterarm über seine Augen legen, so hell war das gleißende Licht, das ihm entgegenschlug. June hatte nicht – wie es bisher immer der Fall gewesen war – ihr Zimmer verdunkelt, indem sie das Fenster komplett mit dunkelblauen Tüchern verhing, nein, diesmal hatte sie die Tücher beiseite gelassen und nicht einmal die Rollos herunter gelassen, die sonst nur hinter einem bekritzelten Holzkasten über dem Fenster an der Wand verstaubten. Von der Seite durch dieses Licht angestrahlt stand June, wie immer gekleidet wie ein Junge, vor einem Spiegel, der schief auf dem Regalbrett über ihrem Bett stand, wohl gerade erst halbherzig dort befestigt, und kämmte, sich mit einem Knie auf dem ungemachten Bett abstützend, ihre strubbeligen blonden Haare. Kurz waren sie, ein wenig ungepflegt nannte sie die Mutter. Verbissen starrte June in den Spiegel, stoisch weiter kämmend, als wollte sie die Sätze der Mutter und der anderen aus ihrem Kopf herausziehen.
Jari starrte seinerseits die Schwester an, die ihn erst nach einigen Sekunden bemerkte, als er sich schon an das strahlende Licht gewöhnt hatte.
Was willst du, fragte sie und ließ die Haarbürste langsam sinken. Drohend richtete sie sie schließlich auf ihn, als er ansetzte zu antworten.
Es roch seltsam, sagte Jari, ich wollte sehen, warum.
Stumm wies June mit der Haarbürste auf den Boden. Dort lag, neben sich die Kappe, die einen deutlichen Riss aufwies, eine Flasche Parfum auf einem – ganz und gar nicht zu June gehörig scheinenden – Kleiderhaufen.
Seit wann benutzt du so was?, fragte Jari ungläubig, das kenne ich ja gar nicht von dir.
Seit jetzt.
June wandte sich wieder dem Spiegel zu und zog noch einmal kräftig die Bürste durch ihre Haare.
Wow, sagte Jari, platt von all den Eindrücken, du benimmst dich so … 16.
Tja, sagte June und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, ich dachte, ich sollte das.
In den nächsten Wochen begann June, alles zu ändern. Ihre Fingernägel, bisher immer so kurz wie möglich über dem Nagelbett geschnitten, ließ sie lang wachsen. Jari bekam dies immer wieder deutlich zu spüren, wenn er – wieder einmal die Schule schwänzend – ins Zimmer der Älteren ging und zuvor nicht anklopfte, woraufhin sie, June, sich gern in seinem Arm festkrallte und ihn mit ihren langen Krallen stach. Auch ihre Haare ließ sie wachsen, ließ sie nicht mehr allmonatlich von ihrem besten Freund Vinzent schneiden, wie sie es davor immer getan hatte, raspelkurz will ich sie haben, sondern besuchte ihn stattdessen einige Monate lang nicht. Als ihr die Haare auf die Schultern fielen und ihre Kleider immer bunter wurden und die Kleider sogar anfingen, tatsächlich Kleider zu sein, sagte sie an einem kalten Dienstagmorgen, an dem Jari ausnahmsweise wirklich krank war: Ich treffe mich wieder mit Vinzent.
Wie das, wollte Jari wissen, andächtig die Nagellackflaschen auf Junes Regalbrett zählend, das sie ebenso wie den hölzernen Rollokasten abgeschliffen hatte.
Nun, sagte June und ließ sich ihrem Bruder gegenüber auf das Bett fallen, ich langweilte mich und es war mir allein zu dunkel.
Was habt ihr gemacht, wollte Jari wissen, wobei er sowieso schon etwas ahnte.
Ich weiß nicht, sagte June. Einiges. Vielleicht bin ich schwanger.
Ruckartig hob Jari den Kopf und blickte sie mit entsetzt aufgerissenen Augen an.
Was?, flüsterte er. Schwanger? Du?
June lächelte milde.
Naja, es ist ja nichts gesagt.
Sie winkte ab.
Mach dir keine Gedanken, Großer.
Eines Tages kam sie dennoch mit einem schier schmerzverzerrten Gesicht in die Küche. Die Mutter, die seit der Wandlung ihrer Tochter viel besser auf selbige zu sprechen schien, schaute sie an und lächelte.
Was gibt es, mein Schatz?
Die Mutter legte den Kartoffelschäler beiseite, mit dem sie eben noch emsig hantiert hatte, und strich June über das lange blonde Haar.
Mama, ich muss dir was sagen, begann June zögerlich, die fürsorgliche Miene ihrer Mutter ignorierend und weiter verlegen dreinschauend.
Brauchst du Geld? Soll ich dir was Neues zum Anziehen kaufen?
Oh nein, sagte June hastig und wischte die Hand der Mutter aus ihrem Gesicht, darum geht es nicht. Nein, was ich dir sagen will, ist … Ich bin schwanger.
Nachdem sie das gesagt hatte, verließ June fluchtartig die Küche und rannte die beiden Treppen hinauf ins obere Stockwerk. Dann lief sie weiter zu Jaris Zimmer, dem letzten am Ende des Ganges, und stürmte hinein, ohne anzuklopfen; tat das, was sie selbst so sehr hasste, wenn andere es taten.
Jari, brüllte sie, die Hand noch auf der Klinke, es stimmt!
Dann knallte sie die Tür wieder zu und rannte zurück nach unten.
Wie kann das sein?, fragte der Vater beim Abendessen.
In ihrer patzigen Art, die die anderen vor wenigen Monaten noch von ihr gewohnt gewesen waren, antwortete June mit einer Gegenfrage.
Was glaubst du denn?, fragte sie und schaute den Vater mit wütend blitzenden Augen an, sogleich bereuend, wie sie zu ihm war, denn nun war er der Einzige in der Runde, der ein Recht auf Wut hatte.
Von wem denn?, fragte die Mutter, besorgt über den Bauch ihrer Tochter streichend, dem man das Wunder, das er in sich trug und in nicht allzu ferner Zeit würde offenbaren müssen, noch nicht ansah.
Vinzent?, fragte der Vater.
June schob ungehalten die Hand von ihrem Bauch. Wie zur Bestätigung nickte Jari.
Ja, sagte June.
Wer denn sonst, sagte die Mutter.
Ich wusste, dass ihr ein Kampfgeist innewohnt, sagte die Mutter, und immer innewohnen würde. Egal, wie sehr sie nun versucht hat, anders zu sein.
Glücklich blickte sie auf die Tochter, deren eigenes Kind indes, kaum zweijährig, gerade ein holpriges Laufen zu erlernen begonnen hatte, was sie aber nicht davon abhielt, vom Tag ihrer Geburt an alle auf Trab zu halten. June selbst saß seitlich auf einem Klappstuhl, die rechte Fußspitze in einem gleichmäßigen Walzerrhythmus auf die Erde tippend, und zerflückte eine Pusteblume.
Er liebt dich, er liebt dich nicht, dachte Jari.
Jetzt ist sie ja wie du, sagte die Mutter zu June. So wie du gewesen bist.
June lächelte und ließ die Blume fallen. Jari stand auf und ging zu seiner Nichte.
Ich hätte es gerne anders gehabt, sagte June.
Ein bisschen von dem Kind ist mir ja zum Glück geblieben, antwortete die Mutter.
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