Die Stimme der Gegangenen
Sie hatte gern in dem neuen Hause gelebt,
Vorbereitet auf die nächsten Ruhejahre,
War mit ihrem Liebsten darum bestrebt,
Dass man sich den Garten nichts spare.
So sehr hatte sie sich auf die Rente gefreut,
Mit ihrem Ruheständler das Haus renoviert.
Niemals hat sie ihr großartiges Leben gereut,
Söhnen und dem Mann den Haushalt geführt,
Zwei Kinder großgezogen, gefördert, betreut,
Doch die lebten mit Familien längst in der Fremde.
Sie haben ihren Neubau im Alter nicht gescheut,
Waren stolz auf den Ertrag fleißiger Hände.
Die Frau sang manchmal auf dem Balkon ein Lied,
Auf das Geländer flog ihr ein Braunkehlchen zu
Und imitierte dann bruchstückhaft Melodie und Lied,
Da gab es für sie tiefen Frieden und selige Ruh’.
Doch die Frau hat plötzlich Krebs bekommen,
So dass sie nach ganz kurzer Zeit verstarb.
Ihr Mann hat sich eine andere Frau genommen,
Das Haus verkauft, das ein andrer erwarb.
Doch das Braunkehlchen kam immer wieder geflogen
Und suchte vom Geländer aus mit seinen Blicken,
Die ihm mit Frauenstimme gaben herrliche Lieder,
Unverkennbar, doch da war nichts mehr zu schicken.
Es gab ja der Gegangenen Stimme nicht mehr,
Die jetzigen Besitzer waren vollkommen singfrei.
Wann immer das Vögelchen schwirrte daher
Blieb den Menschen das Tierchen daher einerlei.
So tragen vielleicht oftmals singende Tiere
Das Erinnerliche tief in sehnendes Behalten.
Doch wenn niemand mehr Vergangenes weiterführe,
Kommt das Ereignis des Gelebten langsam zum Erkalten.
©Hans Hartmut Karg
2023
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