Die Entdeckung

von | 22.Sep.2020 | Poesie | 0 Kommentare

 

 

Die Entdeckung

 

Der Zeisig singt am Weidezaun,

Du hörst ihn nicht, den kleinen Wicht,

Denn er hält hier heimlich in Zaum,

Was eigentlich bräuchte viel Licht.

 

Denn immer zur Nachmittagszeit

Schwingt Mannes Liebste sich aufs Rad

Und fährt – angeblich kaufbereit! –

Dahin, wo es die Innenstadt.

 

Ja, sie bringt Nahrungsmittel her,

Auch solche, die stark reduziert.

Dann haben sie ein wenig mehr,

Was der Geldbeutel gerne spürt.

 

Und Zeiten werden immer länger,

Wenn sie bald außer Haus nun bleibt.

Der Zeisig, der vorlaute Sänger

Jetzt laut den Fall im Lied beschreibt.

 

Da wacht der Liebste endlich auf,

Spürt, dass da etwas gar nicht stimmt,

Folgt heimlich ihrem nächsten Lauf,

Als sie zu rasch ihr Fahrrad nimmt.

 

Was sieht er, als er heimlich äugt?

Ein Ladenchef, der küsst sie jetzt,

Als er sich zu ihr niederbeugt –

Da ist ein Mann doch tief verletzt!

 

Und sie? Ja, sie entschwindet dann

Mit ihm hinab ins Warenlager

Und kommt hervor da irgendwann –

Er fühlt sich glatt als ein Versager!

 

Beschämt, betroffen kehrt er heim,

Kommt vor ihr an, war immer treu,

Gießt sich rasch ein Glas Cognac ein,

Nimmt es, wie es für ihn halt sei.

 

Sie aber riecht die Cognacfahne

Und schimpft, dass er am Tage trinkt,

Womit den Weg die Sucht sich bahne

Und er verzweifelt niedersinkt.

 

Doch er ist auch ein kluger Mann,

Lässt deshalb alle Schnäpse sausen.

Er hofft, dass sie doch irgendwann

Heimlich ablässt von Gängen draußen.

 

Und weil er weise, still und klug,

Will er ihr die Freiheit gewähren:

Vielleicht hat sie dann doch genug,

Weshalb sollt’ er ihr das verwehren?

 

Denn jung ist dieser Ladenchef,

Er macht das sicher auch mit andern,

Organisiert sich Treff auf Treff,

Denn seine Lüste müssen wandern!

 

Nach einem guten halben Jahr

Kommt sie plötzlich recht früh zurück.

Er merkt’, dass sie unglücklich war,

Dafür hat er ja einen Blick.

 

Tage danach fährt er dorthin

Und sieht den Chef mit einer Andern.

Der hat nichts anderes im Sinn,

Als inbrünstig weiter zu wandern.

 

Nichts überstürzt der kluge Mann,

Weisheit lässt ja das Warten zu,

Und weil er ja nicht anders kann,

Wird daraus für ihn auch ein Schuh.

 

Diskret lässt er sie nun in Ruhe,

Das muss sie mit sich selbst ausmachen.

Er kauft ihr alsbald neue Schuhe,

Muss innerlich doch herzlich lachen.

 

Den Zeisig aber mag er sehr,

Das wird für ihn der Wahrheitsvogel.

Der kommt auch täglich mehr und mehr,

Wo Futter liegt auf kleinem Kogel.

 

 

©Hans Hartmut Karg

2020

 

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