Von Sehnsucht und Gier

von | 16.Nov.2019 | Poesie | 0 Kommentare

nimm mich von dieser reise fort
gefangen im land der ortlosigkeit bin ich

blind / geblendet
route 36 / bolivien
taub / beschallt
gleichzeitig

weiß kaum was
das zu bedeuten hat

ich fühle den anstieg des bluts
eine welle aus hitze wie sandstürme

unvermeidbarkeit: willentlich / wissentlich / bewusst
setze ich mich der möglichkeit zu sterben aus ich

las von den risiken und folgen längst
durchdrang sie intellektuell während

mein herz taub von kokain bleibt
bitter
welk
flatterig
panisch

es gibt nur:

ein leben
ein herz
einen körper einen menschen

mensch was tust du dir da an?!?!
brülle ich in mich hinein

den umschlag umarmend
von bitterkeit besessen
betäubte liebe
im verlies des gezeichneten himmels

hoch wie nie
laufe ich weg: jeden tag

in den 1920er-jahren verkaufte
koksemil auf den nachtstraßen berlins
kokain

das bundesarchiv
hütet ein bild jenes mannes beim geschäft mit
zwei prostituierten wir
erkennen die linksstehende nicht
bloß ihren rücken die

kollegin jedoch versinnbildlicht was
die droge in uns erzeugt:
sehnsucht und gier im
antlitz jenes mädchens halten sie sich die waage kein
zustand überwiegt

beim betrachten des mädchens wird mir schaurig viel
über mich selbst klar mein

verhältnis zu kokain
meine beziehung mit kokain
meine liebe zu kokain das

klingt krank?
ist es auch:
wir nennen es suchtkrank

werde abstinent.

ich wünsche dir willenskraft
ich wünsche dir glück und frieden

die rückfallquote bei kokain ist gewaltig in
der nacht wenn der wind milde weht

wenn steine
die sonne des tages ausatmen

wenn du
über die straßen schleichst

wenn jede straßenecke jener gleicht an der
koksemil einst dealte

wenn du
den geruch der bitterkeit witterst

wenn du
an ihr gesicht an sehnsucht an gier denkst

wenn du
dich fühlst:

tiefer
cleaner
bewusster als je zuvor

wenn du
die hand ausstreckst suchend mit kinderfingern nach koksemil
dem verkniffenen / zuverlässigen

ein verkäufer muss parat sein für jede sekunde deiner
sehnsucht

koksemil: deine klagelieder sind schwarzweiß
schwarzweiß dein
hut grau die krempe zerrissen wie deine zitternden
hände aus denen die kapseln sprießen
hände mit denen du nach geldscheinen grapschst
hände mit denen du schweiß fortwischst

kippe im mundwinkel
abgetragener mantel

koksemil dein
geist weht durch großstädte wie benzindampf
aus grellen lichtern grinst dein gesicht

unsterblich
gelebt
jahrzehnte im ausdruck

der ausdruck der sehnsucht
der ausdruck der gier

für alle für jeden der
kokainsüchtig

für alle für jeden der
kokainabhängig

für alle und für jeden der
clean von kokain ist

für alle und für jeden:
sehnsucht und gier

ruh’ in frieden mädel

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