Farblos

von | 09.Nov.2018 | Poesie | 1 Kommentar

Alles wirkt grau.

Grau, wie das Fell einer kleinen Maus, die in einer winzigen Nische zwischen Wand und Sockelleiste verschwindet.

Grau, wie der Himmel an einem verregneten Herbsttag, an dem der Himmel wolkenverhangen und das Licht nie wirklich hell scheint.

Grau, wie der Teer der Straße und die Farbe der Stadt, durch die sie sich zieht.

Grau, wie weiße Kleidung, die man zu oft und zu heiß gewaschen hat.

Grau, wie die Augen desjenigen, den sie sucht.

Sie schaut zur Seite, in den Spiegel. Ihre Lippen sind rot.

Rot, wie die Erdbeeren, deren verboten süßer Geschmack einen Hauch des letzten Sommers zurückbringt.

Rot, wie das Blut, das durch ihre Adern fließt und unter der dünnen Schicht der Haut pulsiert und unaufhörlich seine Bahnen zieht.

Rot, wie die Farbe der Liebe, deren Leidenschaft und Geborgenheit ihr schon zu lange verwehrt blieb.

Sie schaut nach unten, auf das Gras zu ihren Füßen.

Grün, wie ihre Lieblingsgummibärchen. Grün, wie Waldmeisterwackelpudding.

Grün, wie die Blätter an den Bäumen, die einen Gegensatz zu dem Stamm bilden, der so leblos wirkt, während sie vor Leben pulsieren.

Sie sind Leben, ermöglichen Leben, schaffen es, sehen es zugrunde gehen.

Sie schaut nach oben, in den Himmel. Blau.

Blau wie die unendliche und grenzenlose Weite des Meeres.

Blau, wie morgens um 5 Uhr auf dem nach Hause weg nach viel, viel zu viel Alkohol, mal wieder.

Blau wie ihre Lieblingsjeans und Kornblumen.

Sie breitet die Arme aus und dreht sich im Kreis, immer weiter um sich selbst bis ihr schwindelig ist, schwarz vor Augen wird. Zuerst langsam, dann schnell. Sie ähnelt einer völlig aus dem Takt geratenen Balletttänzerin, die verzweifelt versucht ihr Gleichgewicht wieder zu erlangen. Taumelnd bleibt sie stehen. Schaut sich um. Schaut in den Spiegel.

Der Kreis schließt sich.

Ihre Lippen sind rot, rot wie die Erdbeeren, rot wie das Blut, rot wie die Liebe.

Die Luft ist grau, grau wie das Fell einer Maus, grau wie der Himmel, grau wie die Stadt.

Der Himmel ist blau, das Gras grün.

Und plötzlich, ganz plötzlich, ist sie frei.

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1 Kommentar

  1. Maja

    Sehr poetisch. Könnte auch als Liedtext durchgehen.
    Grau und rosa wie ein Sonntagmorgenhimmel.
    LG
    Maja

    Antworten

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